Eine Fehldeutung verstellt den Blick auf das jüdische Tierrecht, das weiterhin seinen Weg sucht zwischen Vision und kollektiver Abwehr
von Hanna Rheinz
“Macht euch die Erde untertan” – diese biblische Botschaft impliziert einen göttlichen Auftrag und beschreibt die Beziehung des Menschen zur Natur nach abendländischem Verständnis.
Mit dieser mentalen Konstruktion hat sich die Menschheit der Verantwortung für ihre Handlungen weitgehend entledigt; egal wie groß die Gewalt ist, die Menschen der Natur gegenüber ausüben- durch den “göttlichen Willen” erschien sie viele Jahrhunderte lang legitimiert.
Doch entspricht dies wirklich den tierbezogenen Quellen in den jüdischen Schriftwerken? Zweifel entzünden sich an der Interpretation der Quellentexte, die menschliche Interessen in den Vordergrund stellen.
Dem gegenüber steht ein anderes Modell: das Tier hat nach jüdischer Lehre Rechte, etwa das Recht auf Ruhezeiten, die sein Besitzer zu wahren hat, selbst wenn sie eigenen Nutzungsinteressen entgegen stehen.
Der Anspruch “Macht euch die Erde untertan” ist mit den jüdischen Lehren nur bedingt vereinbar.
Jahrhundertelang lebten die abendländischen Menschen in der Gewißheit, die Ausbeutung der Natur- und der Tiere sei ihr gottgegebenes Privileg. Zweifler gab es viele; etwa die antiken Pythagoräer, die hebräischen Essener oder die christlichen Katharer.
Sie alle forderten und lebten einen schonenende Umgang mit der Natur und den Tieren. Und hatten eines gemeinsam: sie wurden verfolgt und vergessen. Bis zum heutigen Tage verhindern Denkgewohnheiten und Drohungen der machtvollen religiösen Führer, daß unser Umgang mit den Tieren hinterfragt wird. Wurde früher der Bann (Cherem) oder die condemnatio memoriae, der Verurteilung, für immer und ewig aus der Erinnerung ausgelöscht zu werden, gegen Abweichler eingesetzt, ist es heute eine andere, nicht weniger wirksame Methode: die kollektive Amnesie, die auf der Gleichgültigkeit und Gier der Konsumenten beruht.
Das abgewiesene Opfer: Warum die Schöpfungsberichte den Fleischverzehr in den Mittelpunkt stellen
Wer sich mit den Texten der Tora beschäftigt, erkennt, daß der Herrschaftsanspruch des Menschen auf wackligen Beinen steht: die Zurückweisung des Fruchtopfers von Kajn zugunsten des Tieropfers von Hevel ebnete zwar der Fleischkultur den Weg, doch dies steht nicht in Einklang mit den Schöpfungsberichten.
Nicht unterordnen, töten, ausbeuten, sondern fürsorgliche Verantwortung ist die Haltung, die die Tora vom Menschen verlangt. Die Partnerschaft von Mensch und Tier (adam u behema) ist daran ablesbar, daß nichtmenschliche Tiere, anders als in der deutschen Sprache, nicht als Wesen minderen Wertes verachtet und als „Tiere“ negativ stigmatisiert werden, wenn von Fressen statt Essen, Kadaver statt Leichnam die Rede ist. Die Naturwissenschaften liefern heute die Fakten, die die jüdische Tierethik untermauern. Es gibt keine objektiven Gründe, Tiere als verachtenswert, als minderwertig, als Ungeziefer zu betrachten. Jede Tierart ermöglicht den Blick auf Tierindividuen, die sich ihren Weg durch die Welt suchen.
Das Verwendung des Begriffs “Unterwerfung”, “untertan machen” anstelle des Verbs “erobern” – richtete unermeßlichen Schaden an; bis zum heutigen Tag rechtfertigt es die Tyrannei des Starken über den Schwachen; deren Folge ist die Empathiestörung des Menschen anderen Lebewesen gegenüber: eine im Verhalten und Denken verwurzelte Destruktivität, die nicht nur die Tiere, sondern den Planeten Erde selbst in den Abgrund stürzen wird. Die weltweite industrielle Fleischproduktion zerstört die Erde.
Die Religionen, die mit dem Anspruch auftreten, die Hüter von Moral und Ethik zu sein, schweigen angesichts dieses skrupellosen “Macht euch untertan”. Sie schweigen zu den Produktionsanlagen für „Fleisch“, die von multinationalen Konzernen in globalem Maßstab gebaut werden und die vegetarischen Kulturen Asiens vernichten.
Die Vertreter der Religionsgemeinschaften wenden ihren Blick ab. Sie sind Nutznießer und gehören zum Kartell des Schweigens, mit denen sie diese Parallelwelten schützen. Damit ignorieren sie ihre eigenen ethischen Normen: die Schriften des Judentums als Quellentexte aller abrahamitischen Religionen, fordern den Schutz der Tiere (Tza`ar baalei chayim”), die nach dem jüdischen Religionsgesetz, der Halacha als beseelte und empfindsame Lebewesen gelten, deren Schutz nicht von Mitleid oder Gnade abhängt, sondern von Gerechtigkeit, selbst wenn dies den wirtschaftlichen, politischen oder persönlichen Interessen der Menschen zuwiderläuft.
Mensch und Tier haben den Bund mit Gott geschlossen und sind einander als Seelen- und Schicksalsgefährten beigesellt sind.
Die Schriften des Judentums: Talmud, Mischna, Aggada, Tehillim, Perek Schira – widmen sich dem Tier und seiner Bedeutung für den Menschen auf der Grundlage der ethischen Trias von Zedek, Chesed und Rachamim: Gerechtigkeit, Güte und Mitgefühl, zu dem der Mensch dem Tier gegenüber aufgefordert ist. Ebenso wie im Verhältnis von Mensch und Gott geht es nicht um Gnade oder Mitleid, das willkürlich gewährt, ebenso wieder entzogen werden kann -, sondern um Gerechtigkeit.
Eine globale Amnesie: Der vergessene und verleugnete biblische Veganismus
Dreh- und Angelpunkt des Verhältnisses von Mensch und Tier ist die Frage der Zulässigkeit des Tötens und Verzehrens von Tieren.
Das ursprüngliche Verbot des Tötens von nefesch chaja, von lebendiger Seele wie in den beiden Schöpfungsberichten (Genesis 1:29-30 sowie Genesis 9:1-4) beschrieben, ist vergessen worden. Weltweit hat sich eine Umkehrung der Werte durchgesetzt; während Lebewesen als minderwertig, als beliebig manipulierbare, beliebig ausrottbare Biomaterialien behandelt werden, gelten ökonomische Interessen a priori, alternativlos und nicht hinterfragbar, als höherrangig.
Die Frage, wie es zu dieser Fehlentwicklung hat kommen können, führt zur großen Lüge des Abendlandes, der Behauptung, Gott selbst und die nach seinem Willen agierenden Religionsvertreter und Machtträger beauftrage die Ausbeutung der Tiere. Die Nähe von Kirche und Staat, Staat und Wirtschaft, demonstriert eine andere Interpretation von „Bund“ als jene die zum Nutzen aller Lebewesen einst geschlossen wurde.
Der erste Schöpfungsbericht (Genesis 1:29-30) ist vegan. Seine wichtigste Botschaft: “Ich geb` euch alles Kraut Samen tragend, … euer sei es zum Essen.”
Wie würde die Welt heute aussehen, wenn dieser Schöpfungsbericht ernst genommen worden wäre? Wenn sich nicht der Schöpfungsbericht von Genesis 9:1-4 durchgesetzt hätte, der dem Menschen die Fleischkost erlaubt, allerdings unter den Bedingungen von Furcht und Schreckens, und einer Blut- und Todes-basierten Ernährungsweise: “Alles, was sich regt, was da lebt, euer sei es zum Essen.”
Die Ernährung mit Totenfleisch steht in Widerspruch zu: “Leben und Tod hab`ich dir vorgelegt, Segen und Fluch; Wähle das Leben:” (Nizawim 30:19) Die paradoxe Intervention “Alles, was sich regt, was da lebt, euer sei es zum Essen; Doch Fleisch mit seinem Blute, sollt ihr nicht essen” hat einen Subtext: `Es ist gar nicht möglich, dies zu erfüllen. Das Wesen des Fleisches ist es, mit Blut durchsetzt zu sein. Es ist nicht möglich, einen komplett unblutigen Zustand zu erreichen. Juden versuchen es seit tausenden von Jahren mittels Ausbluten und Kaschern.
Die Erlaubnis geht mit der Klage über die Schwäche des Menschen einher, der seiner Gier nicht zu widerstehen vermag. Wider besseres Wissen erlaube ich Dir “alles, was sich regt” zu essen, doch es darf kein Fleisch mit seinem Blut enthalten. Deuteronomium 12:20 wiederholt die Warnung: “(Wenn) du sprichst: Ich möchte Fleisch essen – weil deine Seele Fleisch zu essen begehrt,- wie es immer deine Seele begehrt, magst du Fleisch essen.” Der Zweifel ist unüberhörbar. Dies ist eine Ausnahmegenehmigung für jene Menschen, die sich nicht von ihrer Vernunft, ihrem Erbarmen, nicht von ethischen Erwägungen leiten lassen, weil ihr Begehren (yetzer hara) sie überwältigt. Und die sich einreden, daß es Töten ohne Blutvergießen, Fleischverzehr ohne Blutverzehr gibt. Dabei lautet die Botschaft: Du sollst kein Blut essen. Du sollst nicht töten.
Diese paradoxe Aufforderung zeigt, die Aufgabe hätte nie gelöst werden können, es sei denn, indem auf Töten und Fleischgier verzichtet und unüberwindliche Hürden errichtet würden. Ansatzweise sind diese Hürden da. Die Warnung der Gewalt, die kein Halten mehr kennt, denn “Der den Ochsen schlachtet, erschlägt einen Menschen” (Jesaja 66,3).
Dies entspricht den Geboten des biblischen Tierschutzes:
das Verbot Tiere leiden zu lassen. Das Verbot der Jagd.
Das Gebot, das Blut des unschuldig getöteten Tieres zu bedecken. Das Gebot: Füttere dein Tier, bevor du selbst etwas ißt. Behandle es gerecht, überfordere es nicht, indem du ein starkes mit einem schwachen Tier einspannst. Laß es essen, auch wenn es arbeiten soll. Verbinde ihm nicht das Maul. Hilf dem Tier, auch dem Tier des Fremden, selbst wenn es deinen eigenen Interessen zuwiderläuft. Am Schabbat gilt, dem in Not geratenen Tier zu helfen: Pikuach Nefesch, Seelen und Lebensrettung von Menschen ebenso von Tieren – haben Vorrang.
Das Entbluten soll durch die Schlachtmethode (Schechita) und Zubereitung (Kaschrut) gewährleistet werden. Deuteronomium 12:15-16) fordert: “Nur das Blut sollt ihr nicht essen, auf die Erde gießet es aus wie Wasser.”
Auch dies ist unerfüllbar: Das Blut eines Lebewesens läßt sich nicht wie Wasser auf die Erde gießen. Ein totes Tier mag wie ein leeres Gefäß sein, doch selbst wenn man es kippt, wird es nicht gelingen, Blut auszugießen wie Wasser. Blut läßt sich nicht komplett entfernen: sogar koscheres Fleisch enthält Partikel von nefesch chaja.
Dennoch gilt koscher versus treife. Um Fleisch verzehren zu dürfen, muß der Mensch charakterlich geeignet sein. Im “Buch der Frommen” (Sefer Chassidim) wird die Frage gestellt: “Wie darf der Schuldige das Unschuldige schächten und essen?”
Eine Paradoxie: Wer ist wirklich unschuldig und in welcher Hinsicht?
Keiner.
Dies ist nicht erfüllbar. Umso mehr als der Unschuldige gar kein Fleisch essen würde. Das verbietet ihm seine “Unschuld”, seine Reinheit, die ihn Erbarmen mit den Tieren empfinden läßt.
Dem Fleischverzehr werden unermüdlich Riegel vorgeschoben.
Der Talmud geht so weit, den Fleischverzehr nur dem Weisen zu erlauben (der “Weise” verzichtet), nicht jedoch dem rohen, ungebildeten Menschen (Talmud Pesachim 49b).
Die Heiligkeit Israels besteht darin, das Leben der Tiere zu achten. Damit erregt Israel Feindseligkeit. Das Verbot des Blutverzehrs, ein indirektes Verbot des Tötens und der Gewalt- wirkt als Provokation in einer Umwelt, in der Töten und Fleischverzehr nicht hinterfragt wird.
Töten, Schlachten und Morden sind Tabuverletzungen. Der Gott, der sich von den Exzessen seiner Schlachter abwendet, hat die Stufe der Ambivalenz überwunden, die ihn das Fruchtopfer des Kajn ablehnen ließ, um Hevels totem Fleisch den Vorzug zu geben, was Zwietracht zwischen den Brüdern säte. Kränkung, mit dem eigenen Geschenk abgewiesen worden zu sein. Was folgt ist Mord.
Dabei sorgt sich Gott nicht nur um den körperlichen, sondern auch den seelischen Schmerz seiner Tiere: “Ein Rind oder Schaf dürft ihr nicht zusammen mit ihren Jungen an einem Tage schlachten” (Leviticus 22:28).
Maimonides kommentiert dies mit dem Erbarmen, das vom Menschen erwartet wird: “Es ist hier kein Unterschied zwischen dem Schmerz des Menschen und dem Schmerz der Tiere.”
Rücksichtnahme auf die mütterlichen Gefühle wird zur Grundlage der Kaschrut, der Reinheit der Nahrung. Verboten ist, die Mutter mit den Jungen gemeinsam zu schlachten oder die Jungen in der Milch der Mutter zu kochen (Deuteronomium 22:6). Wenn ein Vogeljunges genommen wird, muß man die Mutter fliegen lassen. Die Mutter soll nicht vor dem Jungen getötet werden, damit das Junge nicht elend stirbt.
Diese tierbezogene Ethik führt zu Interessenkonflikten, die eine Güterabwägung erfordern: Der in einen Graben gefallene Esel löst einen Konflikt zwischen dem Gebot, einem Lebewesen in Not zu helfen (Pikuach Nefesch) und dem Gebot der Schabbatruhe (Schomer Schabbat) aus.
Die Konfliktlösung besteht in einem Kompromiß und nicht darin, dem Tier das eigene Wohlbefinden abzusprechen.
Die Perspektive des in Not geratenen Tieres erweist sich als gleichrangig zu den Interessen des Menschen (oder Gottes, der die Schabbatruhe fordert) – eine Denkweise, die dem abendländischen Menschen so fremd blieb, daß sie von Philosophen wie René Descartes schließlich radikal zuungunsten des Tieres entschieden wurde. Descartes erklärte das Tier kurzerhand zum Automaten. Aus jüdischer Sicht können die Lebensinteressen der Tiere nicht hoch genug bewertet werden: Um der Tiere willen wird die Vernichtung des untreuen Volkes ausgesetzt; Noah wird zum Hüter der Tiere und des Überlebens.
Welche Folgen hätte diese tierfreundliche Tradition auf die Entwicklung der Welt nehmen können, wäre sie nicht als Erbe des “Volkes der Gottessohnmörder” verunglimpft, abgewehrt, vergessen worden!
Warum das jüdische Tierrecht Abwehr provoziert
Die Frage des Apostel Paulus “Kümmert sich Gott etwa um die Ochsen?” (Korinther I,9), zeigt den Bruch zum jüdischen Tierschutz. Das Gebot, Tieren kein Leid zuzufügen wird nicht Teil der abendländischen Kultur, sondern trägt zu den Negativurteilen über Juden bei.
Welch eine Provokation mag für die christliche Welt aus dem individuellen Segensspruch des Schochet über das Schlachttier erkennbar geworden sein!
Daß Juden sich beim Tier dafür entschuldigen, dessen Leben, dessen lebendige Seele nefesch chaja zu nehmen -, wieviel Mißbilligung mochte dies in der abendländischen Welt ausgelöst haben, die Tieren Seele und Empfindungen absprach und hier tritt ein Minderheitenvolk auf, mit der Unterstellung den Mord des Gottessohnes verursacht zu haben, und behauptet das Tier sei wie der Mensch nefesch chaja und man müsse sich daher für sein Schlachten entschuldigen.
Kein Wunder, daß das jüdische Volk selbst zum “Tier” erklärt wird, durch das Dorf gejagt als “Judensau”, Höhepunkt vieler Volksfeste und in den Reliefs vieler Kirchen in Stein gemeißelt.
Paulus` Entrüstung: “Kümmert sich Gott etwa um die Ochsen?” bringt eine tiefe Kränkung zum Ausdruck. Man hört das Echo des Vorwurfs dem gesamten Judentum gegenüber, das fortan (und bis auf den heutigen Tag) als verirrt, uneinsichtig, mörderisch, gottverlassen, archaisch, grausam, diffamiert wird, weil es den Gottessohn ermordet habe, und dessen Symbol, das Lamm Gottes, dies verwerflichste “Tieropfer” des unheiligen, gefallenen Volkes, das nur durch Taufe wieder in den Kreis der Menschheit zurückgeholt werden könne…
Indem Paulus die Möglichkeit, daß Gott sich um einen Ochsen kümmern könnte, weit von sich weist, zieht er einen Schlußstrich unter die Gleichwertigkeit von Mensch und Tier, adam u behema, die von den Fünf Büchern Mose gefordert wird. Das Tier steht nun – wie der Jude – außerhalb des Kreises der Fürsorge und des Erinnerns. Die Heiligkeit des Lebens ist nicht länger Besitz aller Lebewesen, sondern wird – im Fall des Katholizismus – eher dem ungeborenen Leben als dem Tier zuerkannt. Und selbst die wenigen christlichen Tierschützer, allesamt Ausnahmegestalten, haben sich nicht auf das Naheliegende bezogen, den jüdischen Tierschutz: ihre Tierliebe blieb stest die Ausnahme, eine dramatische Geste des Erbarmens dem armen “Tier” gegenüber – Ein Akt der Gnade, nicht der Gerechtigkeit.
Kein Weg führt von Franziskus von Assisi, Christian Adam Dann oder Albert Schweitzer zu Martin Buber und Rav Avraham Yizchak HaKohen Kook.
Die heute zur Normalität gehörende Zerstörung von Lebewesen mit all ihren Folgen für den Menschen und die Menschlichkeit, zeugt von einem jahrtausendelangen Wegsehen vor dem Leid der Tiere. Dies nicht zu erkennen, weist auf das Wahrnehmungs-, Gefühls- und Wissensdefizit der Religionsgemeinschaften hin.
Nach dem Jahrhundert der Schreckensherrschaften des Nationalsozialismus, Faschismus und Stalinismus, haben sich die Voraussetzungen für eine menschlichere Welt erneut verschlechtert.
Der Holocaust hat die Menschlichkeit nicht gefördert. Im Gegenteil: Die Möglichkeit, daß Menschen andere Menschen industriell organisiert ermorden nach einer Methode, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Erfindung von Akkordschlachtungen an Tieren praktiziert wird, hat die Hemmschwelle herabgesetzt. Die Vernichtung von Mensch und Tier ist heute leichter und effektiver denn je. Adam u behema stehen einander näher als je zuvor.
Und weniger denn je wird von den Entscheidungsträgern in Wirtschaft und Politik die Gleichrangigkeit von Mensch und Tier in Betracht gezogen.
Die große Kränkung des Menschen durch gemeinsame Abstammung und gemeinsame Affekte, die Sigmund Freud mit Charles Darwin verband, hatte einen Vorläufer: das jüdische Tierrecht. Bis heute steht es im Weg, wenn es um die größtmögliche Tierausbeutung geht. Es liegt nahe, daß Juden bereits früher auch deswegen verfolgt wurden, weil sie “animal rights people“ ihrer Zeiten waren.
Daß die Verleugnung der jüdischen Tierschutztradition gerade im “Land der ehemaligen Täter” eine eigene Dynamik erhält, liegt auf der Hand: Vieles, was mit Juden und Judentum zu tun hat, erzeugt einen Sperrbezirk der Befangenheiten: Nicht Wissen, Nicht Sehen, Nicht Hören Wollen. Den jüdischen Tierschutz als jene Weggabelung erkennen, vor dem die anderen “Kinder” Abrahams zurückgeschreckt sind, um den Weg der Gewalt zu wählen, gelingt in diesem Land der Ausgrenzung und Ausrottung designierter Untermenschen, Parasiten, Ungeziefer, “Tiere” nicht. Diese mangelnde Akzeptanz ist umso überraschender, als es ausgerechnet der Tierschutz war, der von den Nationalsozialisten instrumentalisiert wurde, um die arische Ideologie zu verbreiten. Prominente deutsche Tierschützer propagierten die arische Ideologie. Im Reichstierschutzgesetz mit seinem antisemitisch motivierten Schächtverbot aus dem Jahr 1933 fand diese Entwicklung ihren Höhepunkt. Oder das Dekret aus dem Jahr 1942, das es deutschen Juden untersagte Tiere zu halten. Der Befehl, das geliebte Tier, den Wellensittich, die Katze, den Hund wegzugeben, der Schmerz über diese neuerliche Schikane, war für viele deutsche Juden das letzte große Trauma vor der Deportation.
Während jüdische Kultur allerorten große Wertschätzung erfährt, wird der jüdische Tierschutz verleugnet *) – auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Die Ironie der Geschichte, in Sachen Tierschutz haben die Nazis ihre Ziele weitgehend erreicht: Sie haben unter den Überlebenden und ihren Kindern einen nicht zu kittenden Riß hinterlassen. Es scheint, als würden jüdische Tierschützer auf der Täterseite verortet. Eine Mauer des Schweigens umgibt sie. Und sie wird aufrechterhalten: von jenen Tierschützern, die ihr Desinteresse an “Religion” zelebrieren, von Vertretern der Tierschutzverbände, die aus pragmatischen Gründen, um potentielle Erblasser nicht zu vergrämen, sich nicht von den menschenverachtenden Parolen ewiggestriger Schächtgegner distanzieren – und schweigen, wenn dazu aufgerufen wird, man solle Juden und Muslime mit stumpfen Messern schächten-, von jenen, die Juden als Sprachrohr des betäubungslosen religiösen Schlachtens behandeln, und auch von Seiten der jüdischen Gemeinschaft selbst, die ihre eigenen Tierschützer am liebsten unter den Teppich kehren möchte: Weil sie an die Partnerschaft von Mensch und Tier erinnern, weil sie die Schriften in anderer Weise lesen, um die tierfreundlichen Stimmen früherer Jahrtausende hörbar zu machen, weil sie verdächtigt werden, jüdische Traditionen, und zwar Fleischrezepte-, zu gefährden. Die Koscherfleischhändler laufen Sturm, dabei ist Israel neben Indien das Land mit der größten Verbreitung des Vegetarismus. Abgelehnt werden sie, weil sie an die Traumata rühren, die Juden durch den “deutschen Tierschutz” widerfahren sind.
Die Tora verlangt: Übernehmt – be zelem elohim – endlich Verantwortung für alle Geschöpfe unserer Erde.
Folgt der Vision, dem Gegenentwurf zur globalen Ausbeutung: der Mensch ist Hüter der Erde (Schomer ha adama), sein Ziel, die zerbrochene Welt wieder instand zu setzen (Tikkun ha Olam).
Die Religionsgemeinschaften sind aufgefordert, sich den Ungeheuerlichkeiten der industriellen Tierproduktion entgegen zu stellen.
Die Visionen der Tierfreunde von Am Jisroel fortzusetzen: Der Wanderer in der Wüste trifft auf den streunenden Hund und findet den Seelengefährten; Der Esel führt seinen Reiter zum Engelsboten des Schöpfers. Der Schlachter sieht die Todesangst in den Augen des Kalbes, das um sein Leben bittet; er legt sein Schlachtmesser beiseite. Und hält die Akkordschlachtstraße an.
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